Abschied von Reiner
19.05.2021
„Das Herz ist ein Muskel in der Größe einer Faust!“ (Früchte des Zorns)
Liebe BUNDjugend-Aktive,
Texte habe ich für unsere Homepage und den Klatschmohn viele geschrieben. Aber jetzt mein eigener Abschiedstext? Nicht einfach. Am besten fange ich ganz vorne an…
1992 fand die UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro statt. Spätestens seither ist allen Fachleuten und vielen Engagierten weltweit klar, dass wir eine umfassende große öko-soziale Transformation brauchen, damit die Welt ein lebenswerter Ort bleibt. (Randbemerkung: Mit Michael Jacksons „Earth Song“ von 1995 war das Thema im Pop angekommen – niemand meiner Generation kann sagen, er*sie hätte von nichts gewusst.) Im Sommer 1992 rund um die Rio-Konferenz waren unsere Diskussionen im Bio-Unterricht geradezu euphorisch. Wir waren elektrisiert von der Vorstellung, dass Umwelt und Soziales ab jetzt immer nur noch zusammen gedacht werden würden und ernst gemacht würde. Ab jetzt würde alles anders. Ich war damals 17 und wollte Teil der Veränderung sein. Gemeinsam mit anderen gründeten wir die BUNDjugend Weinstadt neu. Mit 18 wäre auch bei mir der Führerschein angestanden. Aber auch damals schon war ein gewisser Zusammenhang zwischen dem motorisierten Individualverkehr und dem Klimawandel bekannt… Ich habe bis heute keinen Führerschein. Als Kanzlerin Merkel und Umweltminister Gabriel 2007 in Outdoor-Jacken verkleidet in Grönland auf dem Gletscher publikumswirksam staunten, dass es den Klimawandel wirklich gäbe und sich etwas ändern müsste, kam mir das kalte Kotzen. Warum gleich hatte ich mit 18 den Führerschein nicht gemacht? Wenn Jugendliche damals wie heute die schlaueren Menschen sind, läuft irgendwas schief. Das Bundesverfassungsgericht hat es immerhin verstanden.
Klar, eigentlich will man nicht widersprechen, wenn politisch Verantwortliche erkennen, dass der Klimawandel ein Problem ist, das angegangen werden muss. So auch jetzt wieder 2021 in Baden-Württemberg: Kretschmanns wichtigste drei Themen sind Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz. Klingt gut. Aber wer war doch gleich Regierungschef die letzten zehn Jahre im Ländle? Helft mir, ich komm nicht drauf…
Das Ganze zeigt, dass es uns als BUNDjugend braucht. Wir müssen gemeinsam mit anderen weiterhin kämpfen als Teil einer globalen solidarischen Bewegung. Wir dürfen nicht nachlassen, Druck aufbauen, Mehrheiten und Bewusstsein schaffen für die Transformation, jungen Menschen das Handwerkszeug vermitteln, die Welt zu gestalten, sie ermächtigen. Dabei ist die BUNDjugend schon aus einem naheliegenden Grund super geeignet, Umwelt- und Sozialpolitik im Sinne einer echten, starken Nachhaltigkeit voranzubringen (mit starker Nachhaltigkeit meine ich explizit nicht jene harmonistische Propaganda-Lüge vom sogenannten Nachhaltigkeitsdreieck mit den angeblich gleichberechtigten drei Polen Ökologie, Ökonomie und Soziales – denn in einer gerechten Welt müssen Menschenrechte und natürliche Prozesse menschliches Handeln begrenzen, zumal menschliches Wirtschaften, das als Gewinnmaximierungs-Streben missverstanden werden soll): Wir sind nicht nur der Jugendverband eines großen Umweltverbands, sondern als Jugendverband auch Teil der sozialen Daseinsfürsorge und qua Sozialgesetzbuch Vertreterin der Interessen von Kindern und Jugendlichen!
Es war mir eine Freude, es war mir Leidenschaft und „manchmal“ (Yok/Milch & Blut) auch Leiden, dabei an zentraler Stelle in den letzten zwölf Jahren hauptamtlich mitarbeiten zu können. Nun gehe ich. Es gäbe im Moment viele gute Gründe, noch etwas dazubleiben. Vor allem seid ihr – viele tolle Menschen, die sich ehren- und hauptamtlich bei der BUNDjugend engagieren – viele gute Gründe zu bleiben. Ihr wart es, die mich durch euer Da-Sein, durch euer Engagement und eure Streitlust immer wieder motiviert haben, weiterzumachen und auch schwierige Zeiten zu überstehen. Ihr seid es, warum es mir schwer fällt zu gehen. Ihr seid es, bei denen ich mich bedanken muss für alles mögliche, manches unmögliche und noch viel mehr. Ohne euch und ohne die BUNDjugend wäre ich heute nicht der, der ich bin. Dafür bin ich dankbar und ich hoffe, ich konnte in den letzten Jahren einiges zurückgeben und der einen oder dem anderen von euch fällt das ein oder andere ein, für das ihr dankbar seid, was wir gemeinsam hinbekommen haben. Selbst wenn eure Bilanz ganz hart ausfiele, eine objektive Tatsache kann man nicht wegdiskutieren: Immerhin hat die BUNDjugend seit ein paar Jahren einen Satz gute Küchenmesser, die das Kochen angenehmer machen. Und das ist doch schon schonmal ein Anfang. Schade nur, jetzt ohne „Plenum“ (Revolte springen) gehen zu müssen.
Bleibt radikal und emanzipatorisch im Denken, konsequent im Handeln, mit Herz und ganz viel menschlicher Wärme, bleibt pragmatisch beim Umsetzen von Plänen, aber bewahrt euch eure Ungeduld. „Wäre ich Papier, ich wär geduldig“ (Merle), „Wir haben nichts zu verlieren außer unsrer Angst, es ist unsre Zukunft, es ist unser Land, gib mir deine Liebe, gib mir deine Hand!“ (Ton Steine Scherben), „the future is unwritten“ (Yok), „Seid Sand im Getriebe der Welt“ (Milch & Blut), „Stay Rude, Stay Rebel!“ (No Sports)
Herzlichen Dank für alles!
euer Reiner
PS für alle Besorgten: „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ (Danger Dan)
PS für alle Neugierigen: Ich werde ab Juli die Geschäftsführung des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Uni Tübingen übernehmen, wo ich selbst studiert habe.
PS für alle Schreibwütigen: Meine Mailadresse reiner.baur@bundjugend-bw.de funktioniert noch eine Weile. Persönliche oder fachlich-kritische Abschiedsmails lese ich gerne. Wegen konkreter Anliegen müsst ihr euch an meine Kolleginnen wenden: www.bundjugend-bw.de/lgs