Der Ruf des jungen Spaniens nach echter Demokratie
Als man auf den Platz kommt ist nichts zu hören, außer ohrenbetäubendem Lärm. Was sich zuerst anhört wie eine Kuhherde auf dem Weg auf die Alm, ist in Wirklichkeit die abendliche Vollversammlung der „Empörten“ auf dem Plaza Catalunya in Barcelona. Punkt 21 Uhr finden sich Menschen aus der ganzen Stadt ein um mit Töpfen und anderen Metallgegenständen Krach zu machen gegen die Politik und die Banken im Land, aber eigentlich geht es den Versammelten ums Ganze; das System. Der Platz ist voll. „Wir sind nicht gegen das System, das System ist gegen uns!“ steht auf vielen Schildern, die mit voller Wut in den Himmel gestreckt werden. Die spanische Jugend fühlt sich von den Politikern nicht repräsentiert. Sie gelten als korrupt und mit Banken und großen Firmen verbunden. Finanzkrise. Durch eine geplatzte Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt traf die Finanzkrise Spanien besonders hart. Mit Sozialkürzungen will die spanische Regierung mit Ministerpräsident Zapatero die Finanzkrise nun aus eigener Kraft bewältigen, nachdem sie Hilfen von der EU verweigert hat. So wird beim Arbeitslosengeld, im öffentlichen Dienst, der Rente, und vor allem im Gesundheits- und Bildungssystem gespart. Aber gleichzeitig wird die Vermögenssteuer abgeschafft und den Banken milliardenschwere Unterstützung zugesagt. Kein anderes Land Europas hat eine so hohe Arbeitslosigkeit wie Spanien: 20 Prozent. Unter den Jugendlichen sieht es sogar noch düsterer aus, dort ist fast jeder Zweite auf der Suche. Trotz abgeschlossenem Studium will kaum ein Unternehmen die AbsolventInnen aufnehmen. Jetzt sind sie auf der Straße zu Hunderttausenden und fordern lautstark, dass endlich Schluss mit dieser unsozialen Politik ist. Es ist ihr Kampf gegen die Politikverdrossenheit nicht nur in Spanien, sondern in ganz Europa. Die spanische Jugend. Die gebildetste Generation, die es jemals in Spanien gab. Noch nie haben so viele SpanierInnen ein Studium abgeschlossen. Sie ist die schönste Generation, wie eine spanische Journalistin mal schrieb. Sie liest Bücher, fährt Fahrrad, isst kein Fleisch und reist durch die Welt. Keine andere Generation vorher erarbeitete sich so viele Chancen für die Zukunft wie die heutige Jugend. Und doch werden sie es durch die aktuelle Finanz- und Politikkrise schlechter haben als ihre Eltern. Die aktuelle Situation stürzt sie in die Perspektivlosigkeit. Doch sie fragen sich, warum gerade sie für die Krise bezahlen sollen, sie haben die Krise doch gar nicht verursacht. So sieht Generationengerechtigkeit nicht aus. Über Jahre hatte sich die Unzufriedenheit über die Missstände im Land bei den Jugendlichen angestaut, bis sich die Empörung auf der Straße entlud! Am 15. Mai gingen zum ersten Mal zehntausende „Empörte“, wie sie sich nennen, auf die Straße. Seitdem herrscht in Spanien gesellschaftlicher Aufbruch. Sie wollen keine Handelsware in den Händen der Politiker und Banker sein. Organisiert über die sozialen Netzwerke im Internet. Über twitter wurde die „#spanishrevolution“ ausgerufen, eine Gruppe junger Perspektivloser ohne Arbeit hat Anfang des Jahres auf facebook die Plattform „Echte Demokratie Jetzt!“ („Democracia Real YA!“) gegründet. Inzwischen hat sie über 400.000 Anhänger und täglich werden es mehr. Die Bewegung versteht sich als pazifistisch und ohne Führungsstrukturen. Gelebte Basisdemokratie unabhängig von Gewerkschaften, Parteien und Verbänden. Die Gruppe hat es geschafft, die Bevölkerung aufzuwecken und das soziale Bewusstsein zu aktivieren. Nach der Demonstration am 15. Mai blieben die Empörten auf der Straße. Sie wollen erst gehen, wenn etwas passiert mit der Politik und so fingen sie an die zentralen Plätze zu besetzen und Zeltstädte aufzubauen. Sie fingen an sich öffentlich zu artikulieren. Eine Aktivistin spricht von einer „Revolution des Bewusstseins“. Jedes Zeltlager ist gut organisiert, und mit den anderen vernetzt. Doch auf soziale Netzwerke bleibt die Bewegung nicht beschränkt. Menschentrauben bilden sich um zwei Männer, die in der Zona Tahrir, einer Ecke der Plaza Catalunya anfingen über das fehlgelaufene System und die Sparpläne der Regierung zu debattieren. Der Geist der Revolution ist auch in Spaniens Zeltstädten zu spüren. Der Ruf nach echter Demokratie ist nach Nordafrika jetzt auch in Europa zu hören. Immer mehr melden sich zu W
ort und engagieren sich für den gesellschaftlichen Wandel. Später am Abend findet die Vollversammlung statt, auf der Vorschläge und Ergebnisse aus den vielen gebildeten Kommissionen im Konsens abgestimmt werden. Demonstrierende tragen Masken mit dem Konterfei des englischen Putschisten Guy Fawkes, besser bekannt als Symbol der weltweit aktiven Protest-Hacker „Anonymous“ und aus dem Film „V wie Vendetta“, in dem ein maskierter Freiheitskämpfer den gesellschaftlichen und politischen Umsturz in einem futuristischen London vorbereitet. Auf den Gesichtern kann man diesen Traum von der politischen Revolte gut erkennen, hier auf dem Platz können sie ihre Utopien ausleben. Sie wirken fröhlich, zuversichtlich. Irgendwie wurde das alles durch Spenden auf die Beine gestellt. Ganze Wohnungseinrichtungen wurden zusammengesucht, Anwohner und Sympathisanten machten mit, halfen den „Empörten“ wo immer es ging, schließlich fehlte es anfangs an allem, aber die Zeltlager wuchsen schnell, wurden mit der Zeit zur festen Institution in den Städten. Inzwischen sind die Zeltlager wieder abgebaut. Sie lösten nach der zweiten landesweiten Großdemonstration am 19. Juni auf. Hunderttausende besetzten an diesem Tag die Straßen, so etwas hat man in Spanien selten zuvor gesehen. Die zentralen Versammlungen haben sich auf die Stadtviertel verteilt. In vielen Dörfern, wo der „Volksmarsch der Empörten“ nach Madrid im Juli Halt gemacht hat, haben die Bewohner beschlossen regelmäßige Versammlungen zu etablieren oder sie haben Gruppen gegründet, die Zwangsräumungen von Wohnungen verhindern soll. In welche Richtung der Protest in Zukunft gehen wird bleibt offen. Raul Zelik, Schriftsteller und Politikwissenschaftler, schrieb über die spanische Bewegung und ihre Bedeutung für Europa, „dass man bislang den Eindruck hatte, dass Europa auf diese Krise von Repräsentation und Politik nur mit unsolidarischen, rassistischen Reflexen zu reagieren weiß. Nur der Rechtspopulismus, der die Angst vor dem sozialen Abstieg gegen die gesellschaftlich Marginalisierten – gegen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Migranten – richtet, hat bisher von der Krise profitiert. Die ’spanische Revolution‘ zeigt nun einen anderen Ausweg auf. Es ist möglich, solidarisch zu handeln und mit eigener Stimme zu sprechen.“ Jetzt wird schon mal für den 15. Oktober mobilisiert, diesmal weltweit. Nächstes Ziel der Empörten ist Brüssel, auch dort fühlen sich die Jugend nicht repräsentiert.
Ein Bericht aus Barcelona von Stefan Wendering. Er ist Aktiver bei der BUNDjugend
. Mit Dank an Hannah Bahr für die Fotos.
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