BUNDjugend Baden-Württemberg  

Einzelfahrschein Reutlingen – Stuttgart

In Stuttgart soll ja jetzt allen Ernstes der Bau von Stuttgart 21 beginnen. Tja ja, die einen legen ihren Manta tiefer, die anderen einen ganzen Bahnhof. Aber eigentlich ist das ein großartiges Projekt, denn wenn Stuttgart 21 fertig ist, dann kann man in nur 3 h von Paris nach Stuttgart fahren – von Tübingen auch, und davon handelt der folgende Text:

„Achtung, Achtung, meine Damen und Herren, auf Gleis 1 hat Einfahrt die verspätete Regionalbahn aus Tübingen zur Weiterfahrt nach Stuttgart Hauptbahnhof, mit Unterwegshalten in Sondlfinga, Metzenga, Bempflenga, Nürtinga, Oberbohinga, Wendlenga, Wernau, Plochinga, Esslinga, und Stuagard Bad Cannstatt, bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“ Dieser Text heißt „Einzelfahrschein – Reutlingen – Stuttgart“. Eigentlich hätte er „Einzelfahrschein – Reutlingen – Berlin“ heißen sollen, aber das gaben sowohl die Zeitbegrenzung hier, als auch mein Geldbeutel nicht her. Bahnfahren ist ja wieder teurer geworden, ’n Ticket nach Stuttgart kostet mittlerweile 10 €, das waren mal 20 Mark, nach dem Grundschulkinderkiosksüßigkeitenrechner sind das 200 Gummischnuller! Ich wollte neulich mal mit dem Zug ins Theater nach Stuttgart. Bin dann los zum Bahnhof, 2 Minuten vor der planmäßigen Abfahrt, ich hetze die Treppen im Bahnhof hinauf aufs Gleis, die Frisur hält nicht. Schnaubend wie ein Nilpferd auf LSD stehe ich vor diesem blöden Automaten und versuche, mir einen Einzelfahrschein nach Metzingen zu kaufen, denn im Stuttgarter Verbund gilt meine Theaterkarte. Dem Automaten scheint mein 5 – Euroschein nicht zu gefallen, ich versuche es mit einem Zehner, den frisst er sofort. Der Automat beginnt, mir mein Restgeld in Höhe von 7,90 € in 10 Cent – Stücken herauszugeben. Der Zug ist bereits 2 Minuten über der Zeit, beeil dich gefälligst du blöder Automat, oder ich box deinen Touchscreen zurück ins analoge Zeitalter, als es noch genügte, einen Knopf zu drücken, um ein Ticket zu erhalten. Der Automat ist gerade fertig geworden, mir mein Rückgeld wieder zu gegeben, der Zug ist bereits 10 Minuten über der Zeit, Handtaschenratte von Omma kläfft laufend, krasser Rapper mit tiefergelegter Hose kommt, Dackel zieht sich zurück, Rapper hat Handymucke – auch nicht besser! 20 Minuten später, der Zug fährt mit quietschenden Bremsen ein. Omma mit Dackel und Rapper sind im selben Abteil – Mist. Klimaanlage ist kaputt – auch Mist. Von einer telefonierenden Frau erfahren wir, dass Marcel ein echter Mistkerl ist und erhalten außerdem detaillierte Informationen über den Rest des Beziehungsdramas. Metzingen – Zug hält, Mutter und Kind mit Burgerkingkrone steigen zu, Kronen-Kind hat ein Abspielgerät aus einem Mc Donalds-Menü, das ständig das selbe Lied spielt. Nürtingen – Der Fast-Food-Zögling befindet sich mittlerweile hängend im Gepäcknetz. Eine Gruppe Junghippies, mit Gitarre, steigt zu und beginnt unverzüglich damit, den Popsong „Lemontree“ zum Besten zu geben. Kind mit Burgerkingkrone heult, weil Mc Donalds-Radio nicht mehr funktioniert. Schaffner kommt und fragt, warum sich Burgerkingbengel im Gepäcknetz befindet, dann nach den Fahrscheinen. Ein kurzer Augenblick der Stille tritt ein, da alle damit beschäftigt sind, Ihr Bilett’le zu suchen. Burgerkingbengel rülpst „Bruder Jakob“. Schaffner kommt zu mir, ich zeige den Fahrschein, Schaffner sagt, dass der Fahrschein nicht ausreiche, da ich zwar über einen Fahrschein sowohl im Reutlinger als auch im Stuttgarter Verbund verfüge, jedoch gehöre die eine Haltestelle zwischen Wernau und Bempflingen keinem der Verbünde an. Bempflingen ist ein Arschloch. Ich hätte also einen Einzelfahrschein für 10 € kaufen müssen, 20 Mark, nach dem Grundschulkinderkiosksüßigkeitenrechner… Schaffner will keine Süßigkeiten, Schaffner will 40€! Ich beginne also Diskussion mit Schaffner, Hippies beginnen zu meiner Unterstützung ‚Ton Steine Scherben‘ zu singen, „…wir fahr’n jetzt alle schwarz und alle riefen, ne ne neeee.“ Omma schaut böse, Dackel fixiert den Schaffner knapp unter Hüfthöhe und knurrt. Schaffner sorgt sich um seine Zeugungsfähigkeit und geht weiter. „Lemontree“, Handymucke und Dackel vermischen sich zu einem Einheitsbrei, der den Denkprozess der sich im Abteil befindenden, stark verlangsamt. Kind mit Burgerkingkrone schläft, Gott sei Dank! Zug ruckelt und kommt außerplanmäßig zum Stehen, Kind mit Burgerkingkrone wacht auf, Gummischnuller fällt zu Boden, Kind plärrt. 10 Minuten später, Schaffner meldet sich über Sprechanlage: „Wir haben festgestellt, dass der Zug steht.“ Derweil leeren Rapper und Hippies ihr gesamtes Kleingeld auf den Boden, um die 50 Cent zusammen zu kratzen, die Burgerkingbengel fordert, damit er noch einmal „Bruder Jakob“ rülpst. Der Gitarrist hat sein Repertoire mittlerweile schon zum zweiten mal komplett gespielt: „Smells like teen spirit“, „99 Luftballons“, „Lemon tree“. Endlich sind die Reste des Wildschweins vollständig entfernt und die Fahrt geht weiter. Plochingen – FC Bayern-Fans, die zum Bundesliga-Spiel nach Stuttgart wollen, steigen zu, es riecht nach Bier und Schweiß, Kind mit Burgerkingkrone zitiert die Toten Hosen. Kind bekommt eine aufs Maul. Kind plärrt, Dackel auch. Kurze Zeit später meldet sich Kind mit Burgerkingkrone schon wieder zu Wort: “Muss auf Klo!” Klos sind defekt, bis auf das, auf dem der Rapper raucht. Mutter beschwichtigt: „Justin, wir sind gleich da!“ 5 Minuten später, Junk-Food-Justin rülpst und sagt mit einem Grinsen auf dem Gesicht: „Fertig!“ Omma rümpft die Nase und verlässt angeekelt das Abteil. Dann knackt es im Lautsprecher, auf einmal ist es mucksmäuschenstill, gespanntes Warten: Von den auf Grund der Verspätung nicht allzu zahlreichen Anschlussverbindungen bekommt eigentlich keiner mehr etwas mit. Die Stimmung ist bereits voll am Kochen, als der Schaffner schließlich zu dem Satz ansetzt auf den alle Gewartet haben, jetzt spielen vorher vorhandene Differenzen keine Rolle mehr, lachend und weinend liegt man sich in den Armen, das Kind mit der Burgerkingkrone und die Fußballfans, der Rapper und die Omma. Es ist eine Oase des Friedens und der Harmonie, Bahnfahren verbindet eben doch, denke ich mir und vergesse die Theatervorstellung, die längst begonnen hat, um mit den anderen im Chor mit zu sprechen, „Sänk ju for träwelling wis Deutsche Bahn.“

Ruben Neugebauer ist begeisterter Peotry-Slamer