Nachhaltigkeit vor Markt. Wohlstand statt Wachstum
Nicht nur die Finanzwelt lebt schon viel zu lang über ihre Verhältnisse: Fischotter und Sumpfohreule sind in Baden-Württemberg bereits ausgestorben. Und das Artensterben geht weiter. 2005 haben allein die Kraftwerke im Land 77 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Luft geblasen. In den vergangenen 50 Jahren haben Siedlung und Verkehr im Land so viel Fläche verbraucht wie alle vorangegangenen Generationen zusammen. Das sind nur drei Beispiele dafür, dass die Baden-Württemberger über ihre Verhältnisse leben und die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit längst überschritten haben. Wie kann vor diesem Hintergrund ein Kurswechsel gelingen, der eine zukunftsfähige Entwicklung einleitet? Diese Frage beantwortet die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“. Herausgeber der Studie, die das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie erstellt hat, sind der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Brot für die Welt und der Evangelische Entwicklungsdienst (EED). „Die Studie hat gezeigt: Für eine nachhaltige Zukunft in Deutschland brauchen wir vor allem echte, nachhaltige Entscheidungen der Politik“, erklärte die BUND-Landesvorsitzende Dr. Brigitte Dahlbender. „Für Baden-Württemberg heißt das konkret: Die Landesregierung muss ihre Prioritäten neu vergeben und sich ernsthaft für ökologische und soziale Ziele einsetzen. Der Markt ist blind für Ökologie und Gerechtigkeit. Deshalb braucht der Markt Regeln, Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. Die bisherige Nachhaltigkeitsstrategie des Landes verdient ihren Namen nicht. Wir brauchen endlich ein zukunftsfähiges Konzept ohne Lippenbekenntnis, das die Landesregierung mit großem Engagement auch zügig und konsequent umsetzt.“
Die Studie macht deutlich: Fossile Energieerzeugung war gestern. Heute und morgen brauchen wir eine effiziente Energienutzung, einen sparsamen Energieverbrauch und Energie aus erneuerbaren Ressourcen. Dahlbender: „Die Studie belegt deutlich: Das postfossile Zeitalter hat längst begonnen. Doch das will die Landesregierung bisher nicht wahrhaben. Das Energiekonzept 2020 ist nur ein Feigenblatt.“ Die BUND-Landesvorsitzende forderte die Regierung auf, ihre Ziele ehrgeiziger zu gestalten: Bis 2020 sollten 25 Prozent der Strom- und 20 Prozent der Wärmeversorgung im Land durch erneuerbare Energien erzeugt werden. Um diese Ziele zu erreichen, müssen weitere Förderprogramme eingerichtet werden und Restriktionen – zum Beispiel beim Ausbau der Windenergie – aufgehoben werden. Dahlbender: „Wir brauchen schon jetzt klare Ziele für die Periode bis 2050.“
Beim Flächenverbrauch sieht es düster aus: Das Ziel, den Flächenfraß bis 2010 auf Null zu reduzieren, wird nach Ansicht der Studie scheitern. Baden-Württemberg ist hierfür ein Paradebeispiel: Obwohl Ministerpräsident Günther H. Oettinger in seiner Regierungserklärung versprochen hat den Flächenverbrauch zu reduzieren, ging der Flächenfraß auf hohem Niveau weiter und stieg zuletzt sogar wieder an. Der derzeitige Flächenverbrauch von 14 Fußballfeldern pro Tag in Baden-Württemberg liegt zwar etwas unter dem Niveau von 2007, doch ist dies nur auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen. Umweltministerin Tanja Gönner sieht ihre Erfolge vor allem in verbalen Kampagnen und der Aufklärung der Kommunen. Eine weiterhin expansive Siedlungsentwicklung und die Zunahme der Verkehrsflächen tragen dazu bei, dass zahlreiche Lebensräume und die biologische Vielfalt des Landes verloren gehen. Dahlbender forderte: „Zum Flächenschutz brauchen wir in Baden-Württemberg dringend verbindliche Vorgaben für die Kommunen und eine bewusste Steuerung der Regionalplanung. Hier ist die Landespolitik gefragt.“
Die neue Studie löst die Untersuchung von 1996 ab. Die aktuellen Ergebnisse zeigen noch deutlicher und dringlicher: Wenn Politik und Wirtschaft zukunftsfähig sein wollen, müssen sie sich neu orientieren. Sie dürfen sich nicht nur einseitig und ausschließlich am Wachstum ausrichten. Auf 656 Seiten erläutert die Studie, wie die Abhängigkeit von den fossilen Rohstoffen beendet werden kann. Und sie warnt: Falls kein Kurswechsel stattfindet, werden die Dramen ökologischer Endlichkeit in Dramen sozialer Deklassierung enden.
Der erste Teil der Studie analysiert die Ausgangslage: Welche globalen Probleme bestehen, welche Ziele müssen umgesetzt werden und wer trägt hierfür die Verantwortung? Der zweite Teil zieht Bilanz für die vergangenen zwölf Jahre – und die fällt vor allem negativ aus. Zwar konnte der Anteil der Erneuerbaren Energien in den vergangenen Jahren gesteigert und die Emissionen von Versauerungsgasen gesenkt werden. Doch bei allen anderen Indikatoren fällt die Bilanz größtenteils negativ aus: im Energiebereich beispielsweise ist der Primärenergieverbrauch gestiegen und der Anteil fossiler Brennstoffe hat sich kaum verringert, der Materialaufwand Deutschlands hat sich insgesamt vergrößert und im Bereich des Flächenverbrauchs sind die Zahlen fast genauso hoch geblieben wie sie im Jahr 1995 waren. Auch in der Entwicklung von Düngemittel- und Pestizidabsatz sind keinerlei Fortschritte erkennbar.
Die Studie fragt nach einer nachhaltigen und damit zukunftsfähigen Vision und entwickelt folgende vier Leitbilder: ´
- ein kosmopolitisches Leitbild, das erfordert, den Menschenrechten auf der Welt volle Geltung zu verschaffen
- ein ökologisches Leitbild, das einen ressourcenleichten Wohlstand bevorzugt und aus dem Dreiklang von Dematerialisierung, Naturverträglichkeit und Selbstbegrenzung besteht
- ein sozialpolitisches Leitbild, welches für eine Politik der sozialen Teilhabe plädiert
- ein wirtschaftspolitisches Leitbild, das auf eine ganzheitliche Wirtschaftsweise mit der Betonung der Natur- und Lebensweltökonomie neben der bisher vorhandenen Geldökonomie abzielt.
Die Studie untersucht auch den „Kurswechsel in Deutschland und Europa“ und zeigt Handlungsperspektiven für Politik und Wirtschaft auf. Der Umstieg auf eine ressourcenleichte und naturverträgliche Solarwirtschaft sowie eine Regionalisierung mit dem Ziel, Kreisläufe auf regionaler Ebene zu schließen, sind dabei die wichtigsten Ziele. Aber auch weltweit muss es eine engere Zusammenarbeit und verbindliche Regeln geben, weist die Studie nach. Sie gibt Handlungsempfehlungen für die internationale Umweltpolitik, für Unternehmen, und für die Handels- und Außenwirtschaftspolitik.
Was kann der Einzelne vor Ort für eine nachhaltige Zukunft tun? Auch diese Frage beantwortet die Untersuchung. Sie entwickelt lokale Strategien und Handlungsmöglichkeiten. Denn, so die Verfasser, die Zivilgesellschaft kann sich äußerst wirksam auf der kommunalen Ebene für mehr Nachhaltigkeit engagieren. Auch mit der eigenen Lebensführung und dem eigenen Konsumverhalten kann der Einzelne Einfluss nehmen: „Sparsam im Haben, aber großzügig im Sein, so lautet die Devise der Zukunftsfähigkeit für einen selbst, wie für die Gesellschaft.“
Die Studie ist allgemein verständlich und erklärt komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar. Viele Beispiele, Zahlen und Fakten werden anschaulich in „Schlaglichtern“ zusammengefasst, die Visionen der Herausgeber und Autoren in so genannten „Zeitfenstern“.